Das Expartner zurück Forum
Würden Sie gerne auf diese Nachricht reagieren? Erstellen Sie einen Account in wenigen Klicks oder loggen Sie sich ein, um fortzufahren.

Löwenzahn von Folke Teggetthoff

Nach unten

Löwenzahn von Folke Teggetthoff Empty Löwenzahn von Folke Teggetthoff

Beitrag  Gast Mo Okt 13, 2008 4:14 pm

Löwenzahn von Folke Teggetthoff

Als der Alraun aus den Tiefen der Erde auftauchte und in den Tag köpfelte, hielt für einen Augenblick, einen kurzen Augenblick, alles, die ganze Welt, den Atem an. Ja, vielleicht wusch Ratwani weiterhin ihre Wäsche im Ganges, putzte Mister Upworth weiterhin die Fenster des Trump Tower in der 5th Avenue, saß Herr Haiden weiterhin auf seinem Traktor und pflügte durchs Schwarzautal.
Und doch – für den Alraun stand für einen Augenblick, alles, die ganze Welt, still. Er war direkt neben einem Geschöpf aufgetaucht, das er noch nie zuvor bemerkt hatte.
Er starrte es an, und in diesem kurzen Moment des Alles-herum-Schweigens wusste er, dass er dieses Wesen liebte – was immer das auch sein mochte! Und er wusste, dass seine vielen Kilometer Erdgänge, sein ganzes Wühlen und Graben nur dazu bestimmt waren, am richtigen Tag, zum richtigen Sonnenstand, hier, zwei Fußbreit neben „ihm“ aufzutauchen. Oh, kennt ihr sie, diese Stillstehmomente, die sich von aller Zeit loslösen und dadurch unendlich erscheinen? Sie bringen die Vergangenheit und die Zukunft – ja, die ganze Zukunft!
„Äh, ich – bist du neu hier?“ stammelte der Alraun, der noch bis zum Hals in der Erde steckte. „Nein“, antwortete das himmlische Geschöpf bestimmt, „bin schon ´ne ganze Weile hier.“

„Ja, ja, ich tauche selten hier auf“, sagte der Alraun, kletterte aus dem Erdloch und setzte sich neben die göttliche Erscheinung. „Wenn ich mal nach oben tauche, dann meist dort drüben, weißt du, ganz weit drüben“, und er zeigte mit seiner erdigen Pfote weit hinter den Horizont.
„Sooo weit?“ Das Geschöpf war sehr beeindruckt. „Du kommst wohl viel herum in der Welt?“
„Weißt du, ein Alraun kennt die Welt. Siehst du den Zaun dort drüben?“ – Nein, den sah es nicht. „Nun, so groß ist die Welt. War schon ´n paar Mal dort.“

Der Alraun hatte sich nun wieder ganz fest in der Pfoten. Und er wusste es nun ganz bestimmt: Dieses Wesen liebte er. Sehr innig und irrsinnig fest, was immer das auch war. Er beschloss, bei ihm zu bleiben bis an das Ende seiner Tage – na ja, oder ein paar Tage weniger ...
„Wie heißt du denn?“ fragte der Alraun zaghaft und zog mit schmachtenden Blicken einen engen Kreis um das Wesen.
„Pusteblume“, sagte die Pflanze.
„P-u-s-t-e-b-l-u-m-e!“ Was für ein Name! Ihm schwanden fast die Sinne. Wie stolz sie dastand. Der fest und doch zarte Stengelkörper und erst der Kopf. Dieser Kopf! Er ahnte, er spürte es: Dieser Kopf musste Ebenbild der ganzen Erde sein – obwohl er gar nicht wissen konnte, dass das, worauf er lebte, eine Kugel war. „Pusteblume“, wiederholte er noch einmal, und irgendwo im Hintergrund pfiff ein einsamer Vogel Pink Floyds „Wish you were here“ ...

So begann die Liebe zwischen dem Alraun und der Pusteblume. Der Alraun, Teil der Erde, wühlte und grub und dachte, der Zaun sei das Ende der Welt. Und die Pusteblume, Kind des Himmels, die der Sonne entgegenstrebte, jedoch von den Wurzeln in der Erde festgehalten wurde – sie wäre so gern frei gewesen, wäre so gern geflogen.
„Ach, fliegen“, sagte der Alraun, „das ist nichts für dich, Pusteblume. Da begibst du dich in die Hände des Windes, das ist gefährlich, glaub mir. Und was gibt es schon zu sehen in der Welt. Schau dich um – das ist die Welt! Und was ein bisschen weiter weg ist – davon erzähle ich dir ja.“
Und der Alraun erzählte seiner Geliebten von Bäumen, die den Himmel festhalten. Von Bächen, die die Erde teilen, und von Blumen, die Kleider tragen, die aus feinsten Sonnenstrahlen gesponnen sind.

„Das muss wunderschön sein“, träumte Pusteblume. „Ein Kleid wie die Sonne zu tragen.“ Sie dachte an ihren schmucklosen Körper, an ihre graue Federkugel.
„Ich liebe dich, wie du bist“, sagte der Alraun.
Ja, sie liebten einander – der Alraun und die Pusteblume.
Dann kam der Tag, die Stunde, dieser Augenblick, an dem wieder alles, die ganze Welt, den Atem anhielt. Der Augenblick, in dem Wung-Tei in das chinesische Meer sprang, um nach Perlen zu tauchen, Oma Ginetta an einem dicken Schal für ihre Enkelin in Mailand strickte und Josi in Jerusalem Märchen erzählte.
In diesem Augenblick sagte Pusteblume: „Alraun. Ich hatte einen Traum. Ich träumte, ich würde mich in viele Teile auflösen und davonschweben. Und ich träumte, ich würde zurückkommen zu dir. Hab also keine Angst, Alraun, und höre: Hole tief Atem, so tief du nur kannst, und dann puste mich in die Welt!“
„Ich habe nicht ganz verstanden, was sagtest du?“
„Alraun, wenn du mich liebst, musst du es tun. Du kannst mir die Freiheit und neues Leben schenken!“

„Bist du verrückt geworden?!“ schrie der Alraun aufgeregt. „Wie kommst du plötzlich auf solchen Unsinn. Wir lieben uns, wir wollen doch zusammenbleiben. Ich werde dich doch nicht zerstören!“
„Alraun, ich muss jetzt gehen.“
„Wie kannst du so etwas sagen, liebst du mich nicht mehr?“
„Alraun, ich hatte diesen Traum. Und nun weiß ich, dass ich für dich mehr sein kann, als nur eine schöne Blume, die fest verankert in der Erde steht.“ „Ich will dich nicht verlieren“, sagte der Alraun leise. „Du gehörst mir.“

„Ich gehöre dir, so wie dir die ganze Welt gehört. Und jetzt – puste, Alraun, puste! Dein Atem schenkt mir die Freiheit.“
Der Alraun spürte wieder diesen kurzen Moment des Alles-herum-Schweigens, der durch seine Unendlichkeit alles Zeitgefühl verschwinden und die Vergangenheit und die Zukunft erscheinen lässt. Und wieder hatte er die Zeit und die ganze Welt in seinem Händen - nur war es diesmal anders. Ganz anders. Damals fühlte er sich groß und stark – jetzt klein und schwach. So schwach.
„Puste“, hörte er es wie aus weiter Ferne rufen, „du liebst mich, also tu es!“
Plötzlich hörte er sich tief Atem holen, es war, als würde er die ganze Welt, die doch bis zum Zaun reichte, in sich hineinholen, alles Glück, alles Unglück in den dunklen Kammern seiner Lunge verbergen wollen. Einen Augenblick war die Welt, die große Welt in ihm, und dann, es kam ihm vor, als passierte es irgendwo und er sah diesem Schauspiel nur zu, öffnete sich sein Mund und die ganze Welt, alles Glück, alles Unglück kam wie ein Orkan aus ihm heraus und traf seine Pusteblume. Und durch den Schleier seiner Tränen sah er, wie seine Pusteblume sich auflöste, und unendlich viele Haarkronen wie Fallschirmflieger wirbelten durch die Luft und bestiegen einen Windzug, der sie sofort mit sich nahm.

Als der Alraun wieder zu sich kam, stand vor ihm ein hohler, leerer Stängel, ohne Liebe, tot, noch ein bisschen bewegt vom Wind. Er konnte es einfach nicht fassen – es war sein Atem gewesen, der die geliebte Pusteblume fortgetrieben hatte, wer weiß wohin, wer weiß wohin. Er warf sich auf die Erde, diese verdammte Erde, die noch ihre Wurzeln festhielt und goss die Erde mit seinen Tränen als wollte er dadurch seine Blume wieder zum Wachsen bringen.
Viele Stunden später köpfelte er in die Tiefen der Erde und tauchte in der Nacht.

Der Winter machte sich über das Land her. Nichts gibt´s zu erzählen darüber – es war wie immer. Der Alraun kannte den Winter nicht – er hielt Winterschlaf.

Es war schon April geworden, und noch keiner hatte den Alraun gesehen. Da gingen die Freunde in seine Höhle, Nachschau halten, und fanden ihn. Nicht tot, aber fast. Zu müde zum Aufstehen. Zu müde zum Festhalten von Augenblicken. Zu müde zum Leben.
„Alraun, das Leben geht weiter“, sagte der Boskabauter, „auch ohne Pustblume. Komm, alles ist bereit für ein neues Jahr, für neues Leben. Der Frühling hat seine Koffer schon ausgepackt. Wir warten auf dich, Alraun, alles wartet auf dich!“
Mühsam stand der Alraun auf und folgte dem Boskabauter zum Licht, in den Frühling. „Nicht hier entlang“, lächelte der Boskabauter und hielt den Alraun zurück – es war der Weg auf die Wiese, wo seine Pusteblume gestanden hatte.
„Ich bringe dich zum Zaun, dahinter ist eine große Wiese, wo das wächst, was du jetzt dringend brauchst!“
Als die beiden auftauchten und in den Tag köpfelten, standen sie ganz dicht am Zaun.
„So nahe war ich dem Ende der Welt noch nie“, sagte der Alraun und wollte schon umkehren. Der Boskabauter jedoch nahm ihn fest an der Hand und führte ihn zu einem kleinen Durchschlupf.
„Schau hindurch!“ lachte der Boskabauter.
„Ist dort die Hölle?“ fragte der Alraun.
„Vielleicht. Vielleicht aber auch der Himmel!“
Vorsichtig spähte der Alraun durch das Loch und sah vor sich eine weite Wiese.
„Was ... was ist denn das?!“
„Eine ganz normale Wiese“, erklärte der Boskabauter. „Eine Frühlingswiese mit Löwenzahn.
Und dieses Kraut brauchst du dringend, um wieder wach zu werden, Komm!“

Und die beiden liefen los, und der Alraun wusste nicht warum, aber der Anblick dieser tiefgelben Blumen machte ihn mit einemmal munter und glücklich. Bei dem ersten Löwenzahn, auf den sie trafen, blieb der Alraun stehen und betrachtete ihn von allen Seiten.
„Wie schön du bist“, sagt er. „Löwenzahn. Das passt zu dir, ja das passt!“
„Ja, Alraun“, sagte der Löwenzahn. Und plötzlich, nur für einen Augenblick, hielt alles, die ganze Welt, den Atem an.

Vielleicht schlachtete Suami in Bali gerade ein Huhn, vielleicht gewann Mister Webber im Casino von Sydney gerade eine Million Dollar, vielleicht küsste Meno im Iglu gerade seine Ase, aber vielleicht hielten sie alle, hielt die ganze Welt für einen ganz kurzen Augenblick inne, ohne zu wissen warum, als mitten in dieses Alles-herum-Schweigen der Löwenzahn sagte: „Ja, Alraun, ich bin´s!“

Gast
Gast


Nach oben Nach unten

Nach oben


 
Befugnisse in diesem Forum
Sie können in diesem Forum nicht antworten